Blog der BEN

Beratungsstelle Energieeffizienz und Nachhaltigkeit

01.12.2024

12/2024 Mut und Bauen im Bestand: Der Schlüssel zur Bauwende

Klimaschutz

Im Gespräch mit der BEN von links: Martin Hirner, Elise Pischetsrieder, Grazyna Adamczyk-Arns und Annabelle von Reutern

Fotos: Tobias Hase

Ein Gespräch mit Referentinnen des Fachtages "Nachhaltigkeit gestalten": Annabelle von Reutern, Martin Hirner, Grazyna Adamczyk-Arns und Elise Pischetsrieder.

 

Hannes Siefert: Frau von Reutern, wie sieht für Sie eine radikale Bauwende aus?

Annabelle von Reutern: Wir müssen das System ändern, weg von der linearen, hin zu einer regenerativen Wirtschaft.

H S: Welche Hausaufgaben sollten ArchitektInnen übernehmen?

A v R: Der Wandel passiert nicht von selbst. Die Bauwende wird nur Realität, wenn Planende sich mit ihrer Rolle kritisch auseinandersetzen: Wer will ich gewesen sein? Was hindert mich? Ich habe beim Fachtag Nachhaltigkeit gestalten vorgeschlagen, dass wir kollektiv zur Therapie gehen sollten. Damit will ich sagen, dass wir uns unserer negativen Glaubenssätze bewusstwerden sollten. Wenn wir wissen, wo uns unser Ego im Weg steht, können wir darauf reagieren. Danach können wir weitergehen, z.B. mit den Forderungen von Architects for Future oder dem Lesen von Maja Göpels und Eva von Redeckers Buch Schöpfen und Erschöpfen.

H S: Wie überzeugen Sie KundInnen vom zirkulären Bauen und/oder vom Bauen im Bestand?

Martin Hirner: Altbausanierung schafft Mehrwert, weil in der Auseinandersetzung mit dem Bestand meistens viel interessantere und unkonventionellere Lösungen kreiert werden können als im Neubau.

Elise Pischetsrieder: Zirkuläres Bauen ist die Fortsetzung jahrhundertelanger Bautradition. Das zu verwenden, was bereits da ist, ist sinnvoll und oftmals für einen Entwurf, eine Planung und einen Ort identitätsstiftend. Mit dem zirkulären Bauen werden meist auch wieder reparaturfähige Gebäude geplant, was den Werterhalt stärkt. Viele Qualitäten vorhandener Bauteile und Baustoffe sind darüber hinaus bereits heute kaum mehr bezahlbar. Von der Verbindung von alt und neu profitiert in der Regel jedes Projekt.

H S: Welche Rolle hat das Bauen im Bestand?

M H: Bauen im Bestand ist die wichtigste Stellschraube, um den Flächen- und Ressourcenverbrauch zu reduzieren und natürlich auch, um weniger Müll zu produzieren. Häuser, in denen bis zum geplanten Abriss Menschen gewohnt und gearbeitet haben, kann man fast immer sanieren; man muss nur den Willen dazu haben und die Bereitschaft, nach ungewöhnlichen und gerade deshalb oft interessanten Lösungen zu suchen.

Grazyna Adamczyk-Arns: Bei der IBA’27 sagen wir: die Stadt der Zukunft ist gebaut. Wir müssen sie nicht neu erfinden, aber wir müssen den Umgang mit den Ressourcen (neu) erlernen. Wir müssen im Kontext denken – projektspezifisch und ortsspezifisch. Eine nachhaltige Flächennutzung kann dabei sowohl Sanierung als auch Abriss und Neubau bedeuten, wenn diese Maßnahmen den Zielen der Nachhaltigkeit dienen. 

E P: Das Bauen im Bestand nimmt die zentrale Rolle in der Bauwende ein: Weiternutzen, Potenziale entdecken und heben, Baustoffe und Bauteile gewinnen und wiederverwenden – all diese Maßnahmen tragen dazu bei, keine weiteren endlichen Primärressourcen zu verbrauchen und fossile Treibhausgasemissionen zu vermeiden. Quadratmeter, die in diesem Kontext für neue Nutzungen erschlossen werden, haben einen geringeren ökologischen Fußabdruck im Lebenszyklus betrachtet.

H S: Frau von Reutern, Sie sind Vorstandsmitglied im Verband Bauen im Bestand (BiB). Was sind die Ziele des BiB?

A v R: Wir haben den Verband 2023 mit dem Ziel gegründet, den BedenkenträgerInnen ihr Futter zu nehmen. Oft hören wir: "Ich möchte nachhaltig bauen, geht aber nicht, weil..." Wir sammeln Bedenken und möchten sie aushebeln, indem wir mit unseren Mitgliedern in kompakten Workshops vorhandenes Wissen bündeln und Anleitungen zusammenschreiben, die für alle auf unserer Webseite zum Download bereitstehen. Wir freuen uns über Anwendung und Feedback. Derzeit arbeiten wir an einem Leitfaden für Dachaufstockungen. Das Schöne an dem Verband ist, dass wir offen sind für alle am Bau Beteiligten. Raus aus dem Silodenken, rein in die Vernetzung – das ist der Schlüssel für Veränderung. Unsere Stärke ist unsere Schnelligkeit sowie unser breites Wirkungsfeld.

H S: Wie lässt sich das Planen und Bauen im Bestand sowie die Kalkulation der zu erwartenden Kosten vorhersehbarer gestalten?

M H: Auch im Neubau gibt es bekanntlich Kostensteigerungen; deshalb müssen bei der Sanierung Kosten für Unvorhersehbares vorab in die Kalkulation aufgenommen werden – und vielleicht muss ja nicht immer alles so perfekt und glatt wie im Neubau sein. Ich möchte eine Ästhetik der Nachhaltigkeit anregen, die Ressourcen spart und sich mehr am Wert und der Langlebigkeit der Materialien sowie gegebenenfalls deren gut ausgeführter Reparatur orientiert. Reuse – Reduce – Repair – Recycle.

E P: Es ist hilfreich, bauliche Maßnahmen im Bestand nach Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit zu priorisieren. Wenn dann Budgets zugeordnet werden, sollten bereits Reservepositionen bestimmt werden, auf die ggf. verzichtet werden kann. Frühzeitige Materialsuche und -sicherung ist, wenn dies vergaberechtlich möglich ist, ebenfalls ein bewährtes Mittel.

A v R: Beim Verband Bauen im Bestand (BiB) konnten wir die DIN 276 zur BiB 276 umschreiben und begegnen so dem "Ja, aber Bauen im Bestand bedeutet unvorhersehbare Kosten." Wir freuen uns über die Anwendung und Feedback zu unseren Produkten. Denn wir sehen die derzeitige Lage als Zwischenzeit, die aus dem alten Denken herausgetreten ist und experimentierend das Neue sucht. Daher sind all unsere Leitfäden Zwischenschritte und dürfen sich verändern.

H S: Frau Adamczyk-Arns, Wie lassen sich zukunftsfähige Quartiere in bereits bestehenden Strukturen umsetzten? 

G A-A: Wir müssen genau hinschauen und die ortsspezifischen Potentiale erkennen und nutzen. Auf der Quartiersebene bieten sich viele Spielräume für Transformation, Nachverdichtung oder Umbau an. Wir müssen einen Nutzungsmix anstreben, was z.B. in den Erdgeschossen oder durch die Aufstockung öffentlicher Gebäude möglich ist. Solche Transformationsprozesse erfordern eine gezielte und vorausschauende Kartierung und müssen auch die Akteurskonstellation berücksichtigen. Wer kann im Quartier Verantwortung für die soziale und ökonomische Entwicklung übernehmen?

H S: Welche gesetzlichen Maßnahmen würden das Bauen im Bestand stärken?

G A-A: Wir haben eine Situation erreicht, in der wir nicht mehr, sondern weniger Regulierung brauchen, um Ziele zu erreichen. Mutiges nicht verhindern (Umbauordnung), Zirkularität fördern (einfachere Zulassungen und Bewilligungen), Nutzungsänderungen flexibler gestalten, Fehlanreize für Abriss und Neubau abbauen. Widersprüchlichen Förderdschungel ausforsten und einfache Instrumente wie CO2-Bepreisung einführen, die Kostenwahrheit 

A v R: Ein Gesetz fällt nicht vom Himmel. Engagiert euch, wenn ihr unzufrieden seid. Das kann in der Kammer oder in Verbänden sein. "Politik muss sich ändern" ist eine Ausrede. Nichtsdestotrotz gibt es Dinge, die ich für wichtig halte, um die Bauwende zu erreichen. Dies könnte zum Beispiel ein verpflichtendes Pre-Demolition-Audit sein. Damit könnten wertvolle Baustoffe aus obsoleten Gebäuden gesichert werden. Weitere Forderungen kann man beim Abrissmoratorium, Architects for Future oder der Deutschen Umwelthilfe nachlesen.

H S: ArchitektInnen sollten sich mehr mit der Immobilienwirtschaft beschäftigen. Warum?

A v R: Die Welt funktioniert nach kapitalistischen Regeln. Immobilien sind Produkte, Assets, nicht nur Orte zum Leben. Ein Kollege sagte mal, Architektinnen seien die "Petersilie am Fisch" der Immobilienwirtschaft – nur Deko. Entscheidungen treffen andere. Viele ArchitektInnen klagen, dass Qualitäts- und Nachhaltigkeitsaspekte aus Kostengründen gestrichen werden. Ich jammere nicht gern und sage, wir sollten Verantwortung übernehmen und eigene Modelle entwickeln. Daher habe ich ein Unternehmen gegründet, mit dem ich selbst untergenutzte Gebäude kaufen, sanieren und betreiben will, finanziert durch Crowdinvesting. Die lineare Wirtschaft schadet dem Ökosystem – es bleibt nur das Kreislaufdenken.

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