05.11.2024

Fachtag Nachhaltigkeit gestalten am 24.10.2024

Klimaschutz

Bauen mit Haltung – ein dringender Appell

Die Fachtagung "Nachhaltigkeit gestalten" der Bayerischen Architektenkammer am 24.10.2024 im Haus der Architektur in München war weit mehr als eine reine Wissensvermittlung. Neben aktuellen Ergebnissen aus Theorie und Praxis des suffizienten und klimagerechten Bauens stand vor allem der kritische Diskurs im Mittelpunkt. Es fehlte nicht an Appellen aus dem Berufsstand an die Politik – aber auch in den Berufsstand hinein – proaktiv zu handeln, positive Narrative zu entwickeln und Haltung zu zeigen.

"Wir sind an einem Punkt der absoluten Dringlichkeit angekommen. In der Klimawandelthematik haben wir noch zehn Jahre für Veränderungen", mahnte Julian Fürholzer, Landesvorstand der Jugendorganisation BUND Naturschutz im Rahmen der Podiumsdiskussion. Er ist einer der jungen Akteure, deren "Positionen den Diskurs bestimmen sollten, denn letztlich treffen wir alle Entscheidungen für die nächste Generation", so Prof. Lydia Haack, Präsidentin der Bayerischen Architektenkammer. Sie stellte Fragen zur Verantwortung der Baubranche: "Wie können wir zur Einhaltung des 2-Grad-Ziels und zur Dekarbonisierung beitragen? Wie lassen sich 216 Mio. Tonnen Abbruchabfälle dem Kreislauf zuführen?" Antworten darauf gaben die Architektinnen und Architekten Elise Pischetsrieder, Prof. Elisabeth Endres, Annabelle von Reutern, Grazyna Adamczyk-Arns, Carlo Becker und Martin Hirner. Ihre treffsicher gewählten Vortragstitel klangen bereits wie ein Maßnahmenkatalog, angefangen mit "Haltung zeigen", über "Wege finden" und "Kreise laufen" zu "Perspektiven verbinden", "Flächen mehrfach codieren" hin zur Aufgabe "Gesellschaft gestalten".

Tagungsbericht hier ausklappen

Autorin: Bettina Sigmund

Der emeritierte Soziologe Prof. Dr. Sighard Neckel, der an der Universität Hamburg zu Gesellschaftsanalyse und sozialem Wandel geforscht hat, betonte in seiner Keynote die Notwendigkeit eines "entschlossenen Umbaus der gesellschaftlichen Infrastruktur, also der materiellen Grundversorgung mit Strom, Wärme, Wasser, Verkehr, Gebäuden und Energie, orientiert an der Einhaltung planetarer Grenzen" sowie dem Gemeinwohl. "Warum sollte es zu schwer sein, verbindliche ökologische Leitlinien einzuführen?", fragte er und erinnerte daran, dass moderne Gesellschaften in vielen Bereichen Regeln akzeptieren – warum nicht auch in der Klimakrise?

Im Anschluss an die Vorträge waren die Teilnehmenden gefragt: In sechs parallel stattfindenden Tischgesprächen zu den übergeordneten Themen erarbeiteten die jeweiligen Expertinnen und Experten mit dem "Publikum" Forderungen an die Vertreter der Politik auf dem Podium, aber auch an den Berufsstand selbst (siehe Bilderstrecke am Ende des Beitrags).

Clemens Richarz, 1. Vizepräsident der Bayerischen Architektenkammer, sah Architektinnen und Architekten als "Lotsen durch den Dschungel der Nachhaltigkeit". Wissenserwerb und -vermittlung seien dabei eine elementare Notwendigkeit. Planerinnen und Planer dürften das Themenfeld der Nachhaltigkeit nicht auslagern, damit die Baukultur nicht fragmentiert werde. Nachhaltiges Bauen müsse sich zudem langfristig weg von der reinen Energieeffizienzbetrachtung hin zur Lebenszyklus- und Treibhausgasanalyse bewegen, erklärte Ingrid Simet, Ministerialdirektorin im Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr. Diese Diskussion offen zu führen, trage zur Bewusstseinsbildung bei. Simet sprach sich dabei gegen Verpflichtungen aus, die eine Kostensteigerung nach sich ziehen könnten, und betonte, wie wichtig es sei, den Planern und Bauenden Handlungs- und Entscheidungsoptionen zu bieten. Der Austausch der Fachdisziplinen und der Dialog mit den Menschen sei entscheidend für den Erfolg. Dies zeigen beispielsweise im Bauministerium die Modellvorhaben immer wieder. So werden für den Ressourcenschutz bei geeigneten Projekten Recycling-Baustoffe verwendet und damit die sogenannte graue Energie aus bestehenden Materialien genutzt. Sighard Neckel hingegen sah in klaren Vorgaben kein Problem. Er argumentierte, die Gesellschaft untergrabe andernfalls im Namen der individuellen Freiheit ihre gemeinsame Grundlage. Die Einhaltung solcher Vorgaben erachtete er als möglich, da Menschen gewohnt seien, im Rahmen akzeptierter Normen zu handeln.
Die einhellige Meinung des Podiums lautete, dass es dringend notwendig sei, alternative Handlungsansätze auszuprobieren, während ein Festhalten am Status quo nicht mehr akzeptiert werden könne. Anne Ritzinger von der Bayerischen Verwaltung für Ländliche Entwicklung sah großes Potenzial für Experimentierräume in ländlichen Regionen: "Wir arbeiten mit experimentellem Wohnungsbau, Pilotprojekten und haben gute Erfahrungen mit kleinen Modellkommunen gemacht. Die eigentliche Frage ist, wie diese erfolgreichen Ansätze aus der Pilotierung in den Mainstream kommen. Dazu müssten die politischen Entscheidungsträger die experimentell entwickelten Lösungen und Freiräume als neue Standards übernehmen." Clemens Richarz forderte die Architektenschaft auf, sich auch "als politische Wesen" zu verstehen und sich über die Fachperspektive hinaus in der Politik zu engagieren: "Dies vervollständigt den Beruf als gesellschaftlich relevanten Faktor".

Den Abschluss der Tagung bildete der eindringliche Appell "Nehmt Haltung an!" seitens der Moderatorin Kathrin Valvoda, dem sich der Rest des Podiums variantenreich anschloss. Clemens Richarz forderte eine Überprüfung individueller Freiheitsrechte, damit diese "nicht als Rechtfertigung für umweltschädliches Verhalten" herangezogen würden. Julian Fürholzer warb gegenüber der Fachwelt dafür, bestehende Beteiligungsmöglichkeiten noch weiter als bisher zu nutzen. Sighard Neckel ergänzte, dass Haltung mit Wissen kombiniert werden müsse. Die Fachtagung habe dies nach seiner Einschätzung erreicht. Entsprechend plädierte er dafür, "dass Expertinnen und Experten mit ihrem Wissen eine entscheidende Rolle in den Transformationsprozessen spielen."

Weitere Themen des sehr intensiven Austausches waren u.a. Ökobilanzierung, Materialkataster und Abrissmoratorium, Gebäudetyp-e und Lowtech, Modellprojekte und Einfamilienhäuser, Nachverdichtung und Aufstockung, B-Pläne und BauBG, Wohlstandsmodelle und Gemeinwohldefinitionen, Architektouren, Architects for Future und vieles mehr.

Aus der Politik sprachen zu Beginn der Tagung Thorsten Glauber, Bayerischer Staatsminister für Umwelt und Verbraucherschutz und in Vertretung von Staatsminister Christian Bernreiter Ministerialdirigentin Petra Kramer, Leiterin der Abteilung Wohnungswesen und Städtebauförderung, Liegenschaften im Bayerischen Bauministerium.

 

Videos der Vorträge

Keynote

Prof. Dr. Sighard Neckel, Professor für Gesellschaftsanalyse und sozialen Wandel, Universität Hamburg

Link zur Aufzeichnung des Vortrags

 

Haltung zeigen

Dipl.-Ing. Elise Pischetsrieder, Architektin, weberbrunner Gesellschaft von Architekten mbH, Berlin

THESE: „Umweltauswirkungen des Planen und Bauens umfassend erkennen, bilanzieren und miteinbeziehen – auf allen Ebenen: Im Entwurf, Ordnungsrecht, Vergabe und Ausbildung!"

Link zur Aufzeichnung des Vortrags

 

Wege finden

Prof. Dipl.-Ing. Elisabeth Endres, Architektin, TU Braunschweig, IB Hausladen, Kirchheim

THESE: "Wir brauchen Experimentierräume für die Standards der Zukunft."

Link zur Aufzeichnung des Vortrags

 

Kreise laufen

M.Sc. Annabelle von Reutern, Architektin, TOMAS – Transformation of Material and Space, Verband für Bauen im Bestand e.V.

THESE: "Lassen Sie uns kollektiv in Therapie gehen."

Link zur Aufzeichnung des Vortrags

 

Perspektiven verbinden

Dipl.-Ing. Grazyna Adamczyk-Arns, Architektin und Stadtplanerin, IBA 2027 StadtRegion Stuttgart GmbH

THESE: "Wenn wir im Quartiersmaßstab denken, müssen wir die richtigen Fragen stellen – und können sie auch beantworten!"

Link zur Aufzeichnung des Vortrags

 

Flächen mehrfach codieren

Dr.-Ing. Carlo Becker, Landschaftsarchitekt, bgmr Landschaftsarchitekten GmbH, Berlin

THESE: "Wir müssen radikaler werden und Stadt systemisch entwerfen. Multicodierung ist hierbei eine Schlüsselstrategie. Damit das gelingt, müssen Instrumente geschärft werden."

Link zur Aufzeichnung des Vortrags

 

Gesellschaft gestalten

Dipl.-Ing. Martin Hirner, Architekt, Hirner & Riehl Architekten

THESE: "Gute Orte + Engagement + Kümmern und Pflege schaffen Heimat"

Link zur Aufzeichnung des Vortrags

 

Ergebnisse aus den Tischgesprächen

Neuer Kommentar